Erich Mendel / Eric Mandell: Freude an der Musik der Synagoge

Erich Mendel entstammt dem westfälischen Landjudentum. Die Vorfahren seiner Mutter lebten am Hellweg zwischen Hamm und Lippstadt, die Familie des Vaters war im Münsterland zu Hause. In Gronau, einer Kleinstadt nördlich von Münster, wurde Erich am 14. Juni 1902 als Sohn der Kaufleute Julius und Karoline Mendel geboren. Aus wirtschaftlichen Gründen zog die Familie im Jahr 1911 nach Herne. Der Wechsel ins Ruhrgebiet bedeutete für Mendels religiöse Sozialisierung den Übergang aus der orthodoxen Tradition einer Landgemeinde in das liberale Judentum des Industriereviers. Die Unterschiede betrafen weniger die Frömmigkeit des Alltags als vielmehr den Gottesdienst in der Synagoge. An der Zulassung von Frauen im Synagogenchor und der Anschaffung einer Orgel für die Gottesdienste spaltet sich bis heute die jüdische Welt.

Die Jüdische Gemeinde Herne war liberal ausgerichtet. Ihre Synagoge verfügte über eine Orgel, die auch Konzertansprüchen genügte. Musikalischen Einfluss auf den jungen Mendel übten sowohl das Elternhaus als auch das gottesdienstliche Leben der Gemeinde aus: Die Mutter sang im Synagogenchor, und den Volksschullehrer Jacob Emanuel, der zugleich Kantor war, hat Mendel später als seinen ersten Lehrer im synagogalen Gesang bezeichnet. Diese Einflüsse, nicht zuletzt aber die eigene Begabung, ließen bei Erich Mendel den Entschluss reifen, selbst Kantor und Lehrer zu werden.

Im Jahr 1916 begann er seine Schul- und Studienzeit an der Marks-Haindorf-Stiftung in Münster. Der Volksschulabsolvent musste zunächst drei Jahre die „Präparandenanstalt“ besuchen, die einem Gymnasium vergleichbar war und eine fundierte Allgemeinbildung vermittelte. Anschließend folgte in sechs Semestern das pädagogische und kantorale Fachstudium, das zur Doppelqualifikation als Lehrer und Kantor führte. Nach dem Examen suchte der junge Kantor seine Kenntnisse und Fertigkeiten im Bereich synagogaler Musik zu vervollkommnen. Er nahm Unterricht bei so bekannten Kantoren wie Magnus Davidsohn in Berlin und Emanuel Kirschner in München, die auch als Komponisten tätig waren.

Kirschner und Davidsohn standen in der Tradition der jüdischen Reformbewegung, die seit der Emanzipation zu Beginn des 19. Jahrhunderts den liturgisch dominierten Gebetsgottesdienst dem protestantischen Gottesdienst mit Gemeindegesang und Predigt angleichen wollte. Die weitgehend freien Kantilenen der Gebete in hebräischer Sprache wurden um stärker liedhafte Gesänge in der Landessprache ergänzt. Den Anfang machte Israel Jacobson in Seesen am Harz, die bedeutendsten Komponisten waren der Wiener Oberkantor Salomon Sulzer (1804 - 1890) und der Musikdirektor an der Neuen Synagoge in Berlin, Louis Lewandowski (1821 – 1894), die beide eine Synthese von jüdischer Musik und europäischer Musikkultur suchten.

 

Im Jahr 1922 berief der Vorstand der Jüdischen Gemeinde Bochum den eben zwanzigjährigen Erich Mendel als Kantor. Später wurde er zugleich Lehrer und schließlich auch Leiter der Jüdischen Volksschule in Bochum. Im schulischen Musikunterricht baute er einen Kinderchor auf, mit dem er nicht nur Konzerte, sondern regelmäßig auch die Gottesdienste in der Synagoge gestaltete. Trotz starker beruflicher Beanspruchung als Lehrer und Kantor nahm Erich Mendel zwischen 1927 und 1933 Gesangunterricht, legte das Examen als staatlich geprüfter Gesanglehrer ab und trat erfolgreich als Bariton in Konzerten auf. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Januar 1933 verloren jüdische Künstlern jede Möglichkeit öffentlichen Wirkens. Gleichzeitig setzten die behördlichen Schikanen auf jüdische Einrichtungen ein, insbesondere auf die Schulen. Für Juden wurde das Leben in Deutschland immer unerträglicher.

Als Reaktion auf Entrechtung und Verfolgung wandte sich Mendel ganz seinem Spezialgebiet zu. In der Zeit bis 1939 wurde er zu einem leidenschaftlichen und immer kenntnisreicheren Sammler jüdischer Musik. In seiner Wohnung entstand ein Archiv mit mehreren hundert Bänden gedruckter Noten und Notenhandschriften, dazu eine umfangreiche Fachbibliothek synagogaler Musik. Hand in Hand damit ging die musikwissenschaftliche Arbeit. Der Bochumer Kantor veröffentlichte Beiträge zur Geschichte der Synagogenmusik und zur Musikpädagogik in angesehenen Fachzeitschriften.

Der zunehmende politische Druck ließ Erich Mendel, wie vor ihm schon viele deutsche Juden, an Auswanderung denken. Den unmittelbaren Anlass lieferte die Pogromnacht im November 1938. Auch in Bochum wurde in dieser Nacht die Synagoge niedergebrannt, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden zerstört, jüdische Bürger beraubt, gedemütigt und gequält. Am Tag darauf kam Mendel ins KZ Oranienburg-Sachsenhausen. Das Ende der entsetzlichen Haft im Dezember 1938 war verbunden mit der Auflage, Deutschland möglichst bald zu verlassen. In den folgenden Monaten gelang es Erich Mendel, seine Bochumer Sammlung nach Holland zu schaffen, bevor er selbst im Juli 1939 nach England emigrierte.

Zwei Jahre dauerte der Aufenthalt in England, wo Mendel als Klavierstimmer seinen Lebensunterhalt verdiente. In dieser Zeit lernte er Martha Wolff kennen. Sie heirateten und gingen gemeinsam in die USA. Dort fand Mendel im Jahr 1941 eine Anstellung in Philadelphia als Chordirektor an der Har-Zion-Synagoge und als Lehrer für synagogale Musik am Gratz-College, einer Ausbildungsstätte für jüdische Religionslehrer und Kantoren. In den USA amerikanisierte Mendel seinen Namen und nannte sich fortan Eric Mandell. Eine Zeit vielfältigen Wirkens begann. Als Chorleiter stellte Mandell fest, dass es an Liedern für den Gottesdienst fehlte. Das veranlasste ihn, eigene Melodien und Bearbeitungen synagogaler Gesänge zu schaffen.

Seit der Ankunft in den USA versuchte Eric Mandell, das Schicksal seiner in Holland versteckten Sammlung zu klären, doch die Recherchen blieben erfolglos. Der Verlust steigerte die Antriebskraft, erneut eine Sammlung aufzubauen, zumal in Europa die jüdische Kultur und mit ihr die Musik der Synagoge gänzlich ausgelöscht schien. Innerhalb von fünf Jahren hatte Mandell den Grundstock seiner Sammlung synagogaler Musik wiederhergestellt. Er ergänzte sie in den folgenden Jahren um jüdische Volksmusik, um israelische Musik und um Lieder aus den Ghettos und Konzentrationslagern. Beim Katalogisieren der zuletzt mehr als 15.000 Stücke umfassenden Sammlung half Martha Mandell, die inzwischen als Bibliothekarin der Har-Zion-Gemeinde arbeitete. Für das kinderlose Ehepaar wurde das gemeinsame Werk zum Lebensinhalt. Am 24. Mai 1970, kurz nach seiner Emeritierung, übergab Mandell die Sammlung an die Musikbibliothek des Gratz-College, die dadurch eine der weltweit größten und bedeutendsten Bibliotheken jüdischer Musik wurde. Im Jahr 1981 verlieh das Gratz-College dem Sammler und Musikforscher die Würde eines Ehrendoktors. Eric Mandell starb in Philadelphia am 6. Februar 1988 nach langer, schwerer Krankheit.

Erich Mendel / Eric Mandell hatte zwei Leben. Im Zentrum seines ersten Lebens in Bochum stand die lokale Jüdische Gemeinde, deren religiöse und kulturelle Gestalt er als Kantor entscheidend prägte. In seinem zweiten Leben in den USA gewann er weltweite Bedeutung als Sammler jüdischer Musik. Das Gemeinsame und Verbindende der beiden Leben ist die Freude an der Musik der Synagoge. Sie zu wecken, ist auch das Ziel der vorliegenden zweiten CD des Ensembles mendels töchter.

                                                                                                                                                                       Manfred Keller

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